Die verlorene Generation7 Minuten
Wir waren eine glückliche Generation, man nannte uns die Babyboomer. Damals wusste man unsere Arbeitskraft nicht zu schätzen, und heute fehlen wir.
Eine schöne Kindheit
Ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen, den sogenannten Babyboomern. Unsere Eltern waren zum größten Teil verheiratet, Scheidungen waren selten. Die meisten von uns hatten Geschwister. Oft arbeitete nur der Vater, während die Mutter als Hausfrau zuhause blieb.
In einer Klasse gab es bis zu 30 Schüler. In der Schule gab es noch Schwimmunterricht. Wir gingen alleine zur Schule und waren auch nach der Schule oft stundenlang unterwegs, ohne dass unsere Eltern genau wussten, wo wir waren. Keiner fuhr uns zum Tanzunterricht oder zum Fußball.
1. Eine glückliche Generation
Wir waren eine glückliche Generation (Publikation vom Berlin-Institut über die Babyboomer, die in Rente gehen) – so dachten wir. Aber spätestens als sich die Schulzeit zum Ende neigte, wurde klar, dass es auch Nachteile gab, wir waren eben zu viele.
1.1. Aufbruch in die Arbeitswelt
Es gab keinen Fachkräftemangel, sondern einen Überschuss. Um die wenigen offenen Stellen rissen sich die Bewerber.
Auch Lehrstellen waren rar. … Insbesondere für Traumjobs waren sie dünn gesät. …
Viele waren auch einfach nur froh, überhaupt eine Ausbildung machen zu können.
Quelle: OM online – Beitrag vom 30.05.2024
Es gab die, die schon als kleines Kind genau wussten, was sie später werden wollten. Aber die anderen waren eher ratlos. Vom Arbeitsamt gab es ein Buch, A-Z-Verzeichnis aller Berufe. Mädchen hatten die Wahl zwischen Sekretärin, Krankenschwester, Friseurin oder Verkäuferin. Die Jungen wollten Automechaniker werden.
Im 10. Schuljahr fand ein Praktikum statt, um dadurch zu sehen, wie das Berufsleben sein konnte. Praktikumsplätze waren rar, und man nahm, was man bekam. Ich hatte Glück und fand einen schönen Platz bei einem Graveur.
1.2. Der Kampf um die Ausbildungsplätze
Kurz vor dem Ende der 10. Klasse ergab eine Umfrage, dass noch nicht alle einen Ausbildungsplatz ergattert hatten. Auf jeden freien Platz gab es Dutzende von Bewerbern. Da wurde sogar auf dem Bewerbungsschreiben jeder Punkt, der nicht direkt über dem „i“ gelandet war, als Fehler in Rot angekreuzt. Und schon war man abgehakt.
Es ging nicht mehr darum, den Traumberuf zu erlernen, der Sinn war es, überhaupt einen Beruf erlernen zu dürfen. Man musste nehmen, was man kriegte. Aber der Gedanke daran, in einem ungeliebten Beruf bis zur Rente arbeiten zu müssen, war grauenhaft. Also war man froh, wenn es nicht ausgerechnet der schlimmste Beruf war, den man sich vorstellen konnte.
Mangels Auswahl wurde ich Arzthelferin beim Hausarzt.
2. Harte Arbeitszeiten
Längst hat dieser Beruf nichts mehr mit der „Sprechstundenhilfe“ der 50er Jahre zu tun und auch die ehemalige Berufsbezeichnung „Arzthelferin“ charakterisiert die Tätigkeit in einem modernen medizinischen Betrieb nicht eindeutig.
Denn das Berufsspektrum ist viel umfassender geworden, als ‚nur’ dem Arzt zu helfen.
Aus diesem Grunde wurde im August 2006 die Bezeichnung Arzthelferin umgewandelt in Medizinische Fachangestellte.
Quelle: Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern
Damals war es noch üblich, dass Arzthelferinnen keine feste Arbeitszeit hatten, sondern arbeiten mussten, bis der letzte Patient ging. Es gab keine Schichten, also gab es eine manchmal eher kurze Mittagspausen, dann arbeitete man weiter bis 19 oder 20 Uhr. Die Bezahlung war gering. Von einer 40-Stunden-Woche konnte man nur träumen, meistens wurden es über 50 Stunden.
Aber es gab etwas Gutes, da man keine Zeit zum Einkaufen hatte, denn die Geschäfte schlossen spätestens um 18 Uhr, konnte man viel Geld sparen.
2.1. Arzthelferinnen heiraten früh
Während der Berufsschule traf man auf die typischen zukünftigen Arzthelferinnen. Sie waren hübsch, perfekt geschminkt, gut angezogen und wussten ihre Vorzüge zu präsentieren, und auf keinen Fall wollten sie den Rest ihres Lebens bei einem Arzt arbeiten. Besser war es, den Arzt zu heiraten. Aber es gab ja noch die Auswahl bei den Patienten, wenn es nicht mit dem Arzt klappte.
Schon während der drei Jahre Berufsschulzeit wurden mehrere schwanger oder brachen die Ausbildung ab, weil sie heirateten.
3. Die Glücklichen
Und so ging der Kampf im Berufsleben weiter. Auf jede Arbeitsstelle gab es so viele Bewerber bei uns Babyboomern, dass der Arbeitgeber den preiswertesten aussuchen konnte. Wenn einem etwas nicht passte, konnte er gehen, es gab genügend Andere für den Arbeitsplatz.
Andererseits gab es noch genügend Arbeitende, die ihr Leben lang bei ihrer ehemaligen Ausbildungsstelle bleiben konnten, wir nannten sie die „Glücklichen“.
4. Lohnt sich die Weiterbildung überhaupt?
Wenn man sich von Anderen abheben wollte, konnte man mit einer guten Weiterbildung punkten, je mehr man konnte, desto besser waren die Chancen auf einen guten Arbeitsplatz. Und so hangelten sich die meisten von uns Babyboomern von einer Ausbildung, Weiterbildung, Umschulung zur nächsten.
Aber entweder war dieser Beruf nach dem Ende der Ausbildung gerade nicht gefragt, die Weiterbildung war nicht ausreichend, oder es gab bereits zu viele Interessenten.
5. Das Ende der sicheren Welt
Bis zu dem verhängnisvollen Tag, den 11. September im Jahr 2001 waren wir Babyboomer erfolgreich. Aber dann brach unsere Welt zusammen. Mit dem World-Trade-Center und den vielen Toten der Terroranschläge starben auch unsere Hoffnungen. Die Welt war nicht mehr dieselbe. Von einem Tag auf den anderen war unser Glaube an die Menschlichkeit vernichtet worden. Wie konnten Menschen anderen so etwas antun? Und auch noch den Tod Tausender feiern? Es gab keine Sicherheit mehr.
5.1. Die Folgen des Anschlags
Die Werbeeinnahmen brachen sofort weg. Druckereien schlossen. Die gesamte Weltwirtschaft war angeschlagen. Fast jede Branche war von den Folgen betroffen. Und am schlimmsten traf es die arbeitende Bevölkerung. Die Arbeitslosenzahlen stiegen sprunghaft an.
5.1.1 Der Beginn der Arbeitslosigkeit
Der heisse Draht
Der Verlag entstand 1983 in Hannover und veröffentlichte kostenlose Kleinanzeigen bis Ende 2012 einmal wöchentlich in einer Zeitung
Zur damaligen Zeit war es neu und die schnellste Möglichkeit, Sachen zu verkaufen oder zu kaufen. Manchmal war schon am selben Tag die aktuelle Auflage vergriffen.
Der Heisse Draht expandierte schnell in benachbarte Regionen.
Auch ich bekam die Kündigung die Woche nach dem Attentat. Durch den Verlust der Werbeeinnahmen waren die Computer-Zeitschriften nicht mehr tragbar. Es drohten Notausgaben. Ein zweiter Schock. Aber ich hoffte darauf, wieder zu meiner vorherigen Firma wechseln zu können.
Und es kam noch schlimmer. Meine vorherige Firma, Der Heisse Draht, traf es ebenfalls schwer, in jeder Abteilung mussten 50 Leute gehen. Von den 250 Mitarbeitern blieben ein Jahr später nur noch 50 übrig. Und dann dauerte es nicht mehr lange, und der Zeitschriften-Verlag musste sich neu orientieren.
5.1.2. Aus Print wird Online
Heute gibt es die Zeitung „Der Heisse Draht“ mit seinen kostenlosen Kleinanzeigen und die diversen Magazine (ca. 50) wie „Sammlermarkt„, „Wohnmobil & Wohnwagen-Markt“, „Haustieranzeiger“ und „Pferdeanzeiger“ u.a. nicht mehr. Sie sind genauso wie der Verlag verschwunden.
Aus dem Heissen Draht wurde dhd24, ein Online-Portal für kostenlose Kleinanzeigen. Inzwischen wurde das Online-Portal an Markt.de verkauft.
6. Mein Fazit
19,5 Millionen Arbeitnehmer der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge werden dem deutschen Arbeitsmarkt einer Analyse zufolge in den kommenden zwölf Jahren verloren gehen.
Gleichzeitig kommen nur 12,5 Millionen jüngere Beschäftigte bis 2036 nach, wie eine Auswertung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt.
Quelle: Tagesschau Beitrag vom 14.10.2024
Wenn ich heute höre, dass die Arbeitslosen angeblich nicht qualifiziert genug seien, man sogar Fachleute aus dem Ausland holen müsse, macht es mich unglaublich wütend. Wie oft habe ich gehört, ich sei überqualifiziert. Aber eine Chance, einen Job zu bekommen, hatte ich nicht. Ich bekam nicht einmal einen Job als Hilfskraft.
Ich war zehn Jahre lang arbeitlos, nein, arbeitssuchend. Über 400 Bewerbungen habe ich verschickt. Bei der Hälfte der Schreiben bekam ich nicht einmal eine Antwort. Von Einigen kam die teure Bewerbungsmappe nicht zurück. Es gab keine Einladung zum Vorstellungsgespräch.
6.1. Keine Hilfe vom Arbeitsamt
Vom Arbeitsamt gab es insgesamt vier Vermittlungsvorschläge.
Dabei durfte ich sogar ein Telefongespräch führen. Aber es folgte kein Vorstellungsgespräch. Bis zum Schluss nicht.
6.2. Dann bleibt nur die Rente
2011 bekam ich die Erwerbsminderungsrente, aufgrund meiner Depressionen, die durch jahrelange Arbeitslosigkeit entstanden waren.
Weitere Artikel zum Thema im Internet:
→ Bye, bye, Babyboomer – In diesen Jobs werden sie fehlen: NDR Beitrag vom 21.11.2024
→ World Trade Center Terror: Süddeutsche Zeitung Beitrag vom 04.09.2021
→ Die Babyboomer gehen in Rente: Lebendige Bürgergesellschaft Körber-Demografie-Symposium Körber Stiftung 2018
→ Arbeitslosigkeit – Das sind die psychosozialen Folgen: Therapie.de Beitrag vom 13.07.2009
→ Der heisse Draht: Wikipedia
→ Terroranschläge am 11. September 2001: Wikipedia
Author Profile
- Marion Klüter ist Multimedia-Fachfrau und Bloggerin. Sie unterhält zwei Blogs mit unterschiedlichen Schwerpunkten, da sich beide Themen nicht miteinander vereinen ließen, denn Wut und Kreativität passen schlecht zueinander. Seit einiger Zeit sind ihr Verlobter und sie stolze Besitzer eines Riesenschnauzers. Trotz vieler Rückschläge in ihrem Leben hat sie den Humor nicht verloren und lacht weiterhin gerne, auch über sich selbst.
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